Prof. Dr. Luca Maria Gambardella der Direktor des Dalle Molle Institute for Artificial intelligence Studies (IDSIA)
5. Sep 2019, Standort | Standortförderung

Künstliche Intelligenz: Spitzentechnologie im Kanton Tessin

Der Kanton Tessin wird als touristisches Ausflugsziel mit einem vielfältigen Freizeit- und Kulturangebot geschätzt. Dank zahlreicher führender Unternehmen mit starker internationaler Ausrichtung in verschiedenen Wirtschaftssektoren sowie der Universität (USI) und der Fachhochschule (SUPSI)* mit ihren Instituten welche die Unternehmen in ihrem Innovationsprozess begleiten, positioniert sich der italienischsprachige Kanton zunehmend international als Innovationsstandort.

Die starke Innovationskraft machen den Kanton Tessin in Verbindung mit den hervorragenden Schweizer Rahmenbedingungen zu einem idealen Standort für die Ansiedlung von Unternehmen in der Technologiebranche.


In der letzten Zeit sorgte vorallem die Thematik der künstlichen Intelligenz im ICT-Sektor für Aufsehen. Die Technik wird zwar weltweit viel diskutiert, doch im Tessin gibt es einen Pionier auf diesem Gebiet: Das Dalle Molle Institute for Artificial Intelligence Studies (IDSIA). Dieses Institut verstand es die letzten Jahre, erstklassige und weltweit anerkannte Kompetenzen aufzubauen. Prof. Dr. Luca Maria Gambardella, der Direktor des Instituts, spricht im Gespräch mit der Handelskammer Deutschland-Schweiz über die Gründe für den grossen Erfolg des Instituts.

Was war der Schlüssel zum internationalen Erfolg des Instituts?
Wir konnten uns ständig und ohne Kompromisse auf die Qualität der Arbeit konzentrieren und hatten die Freiheit, die Forschungsthemen sowie das Personal frei zu wählen. Wir haben äusserst eng verbundene Arbeitsgruppen geschaffen, die sich leidenschaftlich für künstliche Intelligenz einsetzen. Hinzu kommt, dass das Streben nach Qualität mit dem internationalen Vergleich einhergehen muss. Zu diesem Thema hat das Institut immer grossen Wert auf wissenschaftliche Veröffentlichungen gelegt, auch als wir wenig Personal hatten und die finanziellen Mittel nicht gesichert waren. Dies erhöht zwangsläufig die Selbstdisziplin, ver-bessert die Schreibfähigkeiten, die dann für den Erwerb von finanziellen Mitteln nützlich sind und erweitert die Fähigkeit, positiv auf Kritik und Verbesserung zu reagieren. Mit anderen Worten: es schafft eine standhafte wissenschaftliche Kultur, die es erlaubt, im Laufe der Zeit stetig zu wachsen.

Das IDSIA wurde 1988 in Lugano vom Philanthropen Angelo Dalle Molle gegründet. Der italienische Unternehmer ist auch bekannt für die Erfindung des bitteren Aperitifs «Cynar». Im Jahr 2000 wurde das Institut zu einem gemeinsamen Teil von der Universität USI und der Fachhoch-schule SUPSI.

Heute beschäftigt das Institut Personal, welches in der Lage ist, in der Grundlagenforschung auf internationalem Niveau zu konkurrieren (Nationalfonds, Europäischer Forschungsrat) und wichtige Innovationsprojekte mit Unternehmen aus dem Tessin und der Schweiz erfolgreich abzuschliessen (Innosuisse, Mandate). Diese Kombination von akademischer sowie angewandter Forschung ist ein Merkmal des Instituts und macht es im Vergleich zu vielen anderen Universitäten äusserst wettbewerbsfähig.

Heute beschäftigt das Institut etwa 70 Mitarbeitende, darunter 7 Professoren, 20 Doktoranden, 10 Masterstudenten und um die 30 Postdocs mit den Schwerpunkten Informatik, Mathematik, Physik, Statistik, Ingenieurwesen, Künstliche Intelligenz und Algorithmen. Sie veröffentlichen jährlich etwa 100 wissenschaftliche Aufsätze und sammeln mehr als 4 Millionen an Wettbewerbsfonds. Die Spezialgebiete des IDSIA sind künstliche neuronale Netzwerke, Data Mining, Machine Learning, Expertensysteme, Optimierung und autonome Robotik. Die Anwendungsbereiche finden sich in der Medizin, Finanzwirtschaft, aber auch in der öffentlichen Verwaltung, in der Industrie, im Energiesektor und in den Bereichen Tourismus und Mobilität von Menschen und Gütern.
Das Konzept der künstlichen Intelligenz wird viel diskutiert, aber wie zeichnet sich Qualität aus?
In mindestens zwei Dimensionen: Leistung und Zuverlässigkeit. Die Leistung wird mit statistischen und mathematischen Instrumenten gemessen, die klare Analysemethoden bieten; sie bleibt aber eine komplexe und nicht vollständig standardisierte Aufgabe. Die Zuverlässigkeit ist noch schwieriger zu messen, da Algorithmen der künstlichen Intelligenz sehr komplex sind. Eine der grossen Herausforderungen dieser Jahre ist insbesondere diejenige, diese Modelle transparenter und besser interpretierbar zu machen. In diesem Sinne ist eine enge Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen und der Wissenschaft sehr hilfreich.
Wie unterstützt das Institut lokale und internationale Unternehmen, die sich niederlassen wollen bei den Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten?
Das Institut steht an vorderster Front bei der Entwicklung von Innovationspfaden, die es Unternehmen ermöglichen, Lösungen auf Basis künstlicher Intelligenz in ihre Prozesse oder Produkte aufzunehmen. Wir verfügen über ein Team von Spezialisten, die die neuesten Vorgehensweisen im Bereich der künstlichen Intelligenz kennen und es gewohnt sind, mit Unternehmen zu interagieren, da die Spezialisten darin geschult sind, deren Sprache und Bedürfnisse in Be-zug auf Einsatzzeiten und Lösungsqualität zu kennen. Eines der in der Schweiz am weitesten verbreiteten Instrumente (und insbesondere für das IDSIA mit Un-ternehmen im Tessin) ist der Innosuisse Fonds des Bundes. Dieser Wettbewerbsfonds unterstützt innovative Projekte, bei denen Unternehmen mit Forschungszentren zusammenarbeiten. Das Unternehmen sucht nach einer innovativen Lösung, die es auf dem Markt nicht findet, und erstellt einen Businessplan, der die Wirtschaftlichkeit des Projekts belegt. Das Unternehmen arbeitet bei dem Projekt mit dem Forschungszentrum zusammen, dessen Engagement von Innosuisse finanziell subventioniert wird. Zudem unterstützt der Kanton Tessin auf Grund der kantonalen Gesetzgebung 20 % der Lohnkosten, die das Unternehmen trägt. Dank dieses Instruments hat das IDSIA erfolgreich mit Unternehmen unterschiedlicher Grösse und in verschiedenen Branchen der Finanzen, Industrie, Logistik sowie Text- und Bildanalyse zusammengearbeitet. Wir haben die Zusammenarbeit auch dank europäischer Projekte, Interreg-Projekte und Direktmandate mit verschiedenen Unternehmen und Institutionen begonnen, darunter Ente Ospedaliero Cantonale, Corriere del Ticino, Ticino Turismo, Azienda Elettrica di Massagno, Bystronic, Novartis. Insbesondere im Banken- und Finanzsektor haben wir eine sehr wichtige Kooperationsvereinbarung mit UBS unterzeichnet, die kürzlich mit einem gemischten Team von Forschern des IDSIA und UBS ein Business Innovation Center im Tessin eingerichtet hat, um künstliche Intelligenz und Data Mining bei strategischen Anwendungen für die Bank nutzen.
Das Institut befindet sich in der Nähe von Lugano
Welche waren die interessantesten Projekte bei denen Ihre Institution beteiligt war?
Ich nenne hier mehrere Ergebnisse zunächst aus grundlegenderen Arbeiten hin zu Aktivitäten mit einem anwendungsorientierten Blick. 1997 stellte das IDSIA die Methode des deep learning namens LSTM (Long Short Term Memory) vor und veröffentlichte sie anschliessend. Es ist ein System, das einige Verhaltensweisen des menschlichen Gehirns repliziert, ins-besondere in Bezug auf die Fähigkeit zu lernen und sich an neue und unvorhergesehene Situationen anzupassen. LSTM findet Anwendung bei der autonomen Robotik, der automatischen Übersetzung, Bild- und Spracherkennung, Proteinanalyse, Börsenprognose und viele andere Anwendungen. LSTM hat das automatisierte Lernen und die künstliche Intelligenz verändert und steht heute Milliarden von Nutzern über die vier grössten Privatunternehmen der Welt zur Verfügung: Apple, Google (Alphabet), Microsoft und Amazon. Zu den Erfolgen des Instituts gehört auch, dass Shane Legg, ein ID-SIA-Doktorand, einer der drei Gründer von Deepmind ist (www.deepmind.com – 2014 für 500 Millionen Dollar an Google verkauft). Das IDSIA hat den NVIDIA Pioneers of AI Research 2016 Award (mit MIT, CMU, Berkeley, NYU, Oxford, Stanford, Toronto, University of Montreal und Hong Kong) und den Swiss Special ICT Award 2016 gewonnen.

Im anwendungsorientiertesten Bereich nenne ich zum Beispiel das Projekt mit Georg Fischer im Bereich der selbstkonfigurierenden Maschinen. Um zu vermeiden, dass Millionen von Kühl-bohrungen in Flugzeugturbinen gebohrt werden müssen, stellt das Unternehmen eine spezielle Maschine her, die von Spezialisten manuell kalibriert wird, um die Zeit zwischen den einzelnen Bohrungen zu verkürzen und gleichzeitig die erforderliche Qualität zu gewährleisten. Ausgehend von Studien über ungenaue Wahrscheinlichkeiten und Gausssche Prozesse haben wir ein System des automatischen Lernens (Self-Learning) geschaffen, das von der Idee ausgeht, das erste Loch mit zufällig definierten Parametern auszuführen. Jedes Mal, wenn die Maschine ein Loch bohrt, analysieren wir seine Güte und die Maschine bohrt das nächste Loch unter Berücksichtigung der gewonnenen Erfahrungen. Nach nur 20–30 Kalibrierbohrungen ist die Maschine in der Lage, besser zu arbeiten als zuvor, was die Ausführungszeit zwischen den einzelnen Bohrungen erheblich verkürzt.

Im Finanzbereich ist es möglich, mit künstlicher Intelligenz Portfolios um strittige Kredite zu erweitern, das Vermögen grosser Familien zu verwalten und umfangreiche Analysetools zu entwickeln.
Wie beurteilen Sie das Ökosystem des Kantons Tessin für die Entwicklung von Technologieunternehmen im Bereich der künstlichen Intelligenz?
Die Unterstützung des kantonalen Gesetzes für wirtschaftliche Innovation mit den verschiedenen Anreizen für Forschungs- und Entwicklungsprojekte beeinflusst die Situation sicherlich sehr positiv. Wir hoffen jedoch, dass der Kanton Tessin in der Lage sein wird, seine Kräfte zu bündeln und wichtige Investitionen im Bereich der künstlichen Intelligenz zu tätigen, indem er die dreissigjährige Erfahrung unseres Instituts im Bereich der künstlichen Intelligenz nutzt, die dank der Weitsicht seines Gründers Angelo Dalle Molle und des En-gagements des Kantons, der Stadt Lugano, SUPSI und USI entstanden ist.
 
*Università della Svizzera Italiana - USI und Scuola universitaria Professionale della Svizzera Italiana - SUPSI
 
*Dieser Text wurde aus dem Italienischen übersetzt



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