Grenzgänger sind Personen, die in einem Staat ansässig sind (im vorliegenden Urteilsfall Deutschland), aber ihren Arbeitsort in dem anderen Staat (hier Schweiz) haben und von dort regelmässig an ihren Wohnsitz zurückkehren. Die Einkünfte von Grenzgängern sind etwa nicht nach den Grundsätzen des Arbeitsortprinzips oder des leitenden Angestellten zu besteuern; nach dem DBA D-CH darf der Tätigkeitsstaat Schweiz vielmehr nur eine 4,5 %ige Quellensteuer einbehalten und im Ansässigkeitsstaat Deutschland wird der Grenzgänger vollumfänglich steuerpflichtig. Die 4,5 %ige Quellensteuer wird in Deutschland angerechnet. Eine Ausnahme von der Grenzgängerbesteuerung greift nur dann, wenn im Jahr mehr als 60 sog. berufsbedingte Nicht-Rückkehrtage vorliegen.
Urteilsfall
Im vorliegenden Urteilsfall war die Besteuerung der Lohneinkünfte eines in Deutschland Ansässigen strittig, der zur Ausübung seiner Arbeit für einen Schweizer Arbeitgeber regelmässig die Deutsch-Schweizer Grenze überquerte. Seinen Hauptwohnsitz hatte der Arbeitnehmer dabei in Deutschland. Allerdings mietete er eine Wohnung in der Nähe seines Arbeitsorts in der Schweiz an. Dort übernachtete er regelmässig unter der Woche. Er machte geltend, dass er aufgrund der Entfernung nicht arbeitstäglich nach Deutschland hätte zurückkehren können.
Die deutsche Finanzverwaltung folgte dem nicht; etwaige Nichtrückkehr-Tage des Steuerpflichtigen blieben vielmehr steuerlich unberücksichtigt. Sie argumentierte, dass es sich nicht um berufsbedingte Nichtrückkehr-Tage handeln würde. Im Hinblick auf die im Urteilsfall ermittelte einfache Wegstrecke zwischen Wohn- und Arbeitsort von 88 bis 111 km bzw. knapp unter 1,5 Stunden einfache Wegzeit sei eine tägliche Rückkehr an den Wohnsitz in Deutschland vielmehr steuerlich zumutbar. Somit handelt es sich nach Auffassung der deutschen Finanzverwaltung nicht um eine beruflich bedingte Nichtrückkehr. Diese Interpretation wird von den Autoren schon viele Jahre kritisiert.
Pauschale Grenzen in Konsultationsvereinbarung rechtswidrig?
Die o.g. Zumutbarkeit und die genannten Grenzen sind in Art. 15a DBA D-CH selbst nicht genannt. Diese wurden vielmehr in einer gemeinsamen Konsultationsvereinbarung2 von Deutschland und der Schweiz vereinbart. Folglich soll eine Nichtrückkehr aufgrund der Arbeitsausübung nur vorliegen, wenn eine Rückkehr an den Wohnsitz im anderen Staat aus beruflichen Gründen nicht möglich oder nicht zumutbar wäre.
Beide Länder definieren in der Konsultationsvereinbarung, dass:
- Bei Nutzung eines Autos die Rückkehr erst dann nicht mehr zumutbar sei, wenn die kürzeste Strassenentfernung über 100 Kilometer beträgt (einfache Wegstrecke).
- Bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel soll eine Rückkehr nicht zumutbar sein, wenn die schnellste Verbindung zu den allgemein üblichen Pendelzeiten länger als 1,5 Stunden beträgt (einfache Wegstrecke).
Eine solche Pauschalisierung ist sehr stark zu kritisieren. Es fehlt darüber hinaus an einem entsprechenden rechtlichen Erfordernis im DBA D-CH selbst und führt in der Praxis zu Ergebnissen, die kaum sinnvoll erscheinen, da die tatsächlichen Verhältnisse ignoriert werden.
Entscheidung des Finanzgerichts
Das Finanzgericht Baden-Württemberg lehnte die pauschale Herangehensweise der deutschen Finanzverwaltung folgerichtig ab. Der Steuerpflichtige sei an mehr als 60 Tagen aufgrund seiner Arbeitsausübung nicht von der Schweiz nach Deutschland zurückgekehrt und unterläge somit nicht der Grenzgängerregelung. Zwar sei das Gericht an die Konsultationsvereinbarung gar nicht gebunden (so auch schon mehrfach durch den Bundesfinanzhof (BFH), das höchste deutsche Finanzgericht, bestätigt). Die Einschätzung stände aber selbst den Anforderungen in der Konsultationsvereinbarung nicht entgegen.
Denn für die Beantwortung der Frage, ob eine Rückkehr zumutbar gewesen wäre, sei auch nach dem Wortlaut der Konsultationsvereinbarung gar nicht pauschal auf die Entfernung zwischen Wohn- und Arbeitsort abzustellen. Vielmehr handle es sich bei den genannten Werten nicht um starre Grenzen. Es sei im Sinne einer Einzelfallbetrachtung auf die individuellen Umstände abzustellen (bspw. Art der Tätigkeit, Arbeitsbeginn und -ende, Entfernung und Zeitdauer). Im entscheidungsrelevanten Fall gelang dem Steuerpflichtigen der Nachweis, dass eine Rückkehr aufgrund seiner Arbeitszeiten nicht zumutbar war und damit beruflich bedingte Nichtrückkehr-Tage vorliegen. Dabei nahm das Gericht eine Einzelfallbetrachtung vor. So wurden lediglich Tage gewertet, an denen der Arbeitnehmer entsprechend der Dokumentation an mehr als 10 Stunden pro Arbeitstag in der Schweiz tätig war.
Das Verfahren ist aktuell am Bundesfinanzhof anhängig.3 Eine finale Klarstellung der Thematik durch höchstrichterliche Rechtsprechung bleibt demnach abzuwarten.
Praxishinweise
Das Finanzgericht hat in seiner Entscheidung die Notwendigkeit einer individuellen Betrachtung der beruflich bedingten Nichtrückkehr-Tage unterstrichen und somit einen wichtigen Schritt in Richtung einer gerechteren Besteuerungspraxis für Grenzgänger gemacht. Aufgrund der mangelnden Regelung im DBA D-CH selbst könnte der Bundesfinanzhof sogar noch weitergehend urteilen.
In Deutschland ansässige Betroffene sollten sich in vergleichbaren Fällen auf die Auslegung des Finanzgerichts berufen und die Einlegung von Rechtsbehelfen in Betracht ziehen. Für etwaige Diskussionen mit der deutschen Finanzverwaltung ist eine Dokumentation in Form eines Reisekalenders, laufender Belege etc. unabdingbar.
Ausblick neues DBA D-CH
Das Urteil gewinnt vor allem im Kontext der im Jahr 2023 erfolgten Revision des DBA D-CH an Bedeutung, welche die Konsultationsvereinbarung nahezu wortgleich in das Protokoll zum neuen DBA übernommen hat. Mit Inkrafttreten des DBA’s einschliesslich des Protokolls könnten diese Bestimmungen auch für Gerichte bindend werden. Die Interpretation der Regelungen ist daher von besonderer Relevanz und auch zukünftig äusserst aktuell.4 Das Finanzgericht kritisierte vorliegend nicht die in der Konsultationsvereinbarung als solche festgelegten Werte. Vielmehr widersprach es der pauschalen Anwendungspraxis der deutschen Finanzverwaltung, die eine Einzelfallbetrachtung ausschliesst.