Wie soll nun vor diesem Hintergrund ein Aufsichtsrat seiner Aufgabe nachkommen können, die viel stärker als zu den Hochzeiten der Deutschland AG – in den Formulierungen des Bundesgerichts-hofs – ebenfalls eine «in die Zukunft gerichtete Kontrolle» umfasst und regelmässig «die unternehmerische Tätigkeit des Vorstands im Sinne einer präventiven Kontrolle begleitend» zu gestalten ist? Einer möglichen Antwort auf diese Frage, kann man sich durch die Beobachtung einer zunächst nur entfernt nachbarschaftlichen Disziplin annähern, die ihren Paradigmenwechsel von einzig vergangenheitsbezogener Feststellungen zur zusätzlichen Zukunftsgewandtheit schon hinter sich hat: In der Medizin unterscheidet man sowohl zwischen primärer und sekundärer Prävention, als auch die Verhaltens- von der Verhältnisprävention. Hier soll nun versucht werden, diesen Logiken folgend Handlungsempfehlungen zu formulieren:
Um «die unternehmerische Tätigkeit des Vorstands im Sinne einer [primär] präventiven Kontrolle begleitend» kontrollieren zu können, also «die Entstehung von Krankheiten zu verhindern», bietet es sich gerade für mittelständische Unternehmen an, sich der Ressource Gründerinnen und Gründer zu bedienen. Diese haben sich in ihrer Ausbildung und in ihrem Hauptberuf zumeist nicht nur passiv mit den digitalen Transformationen beschäftigt, sondern können praktische Erfahrungen aus eigener Gestaltung mit- und einbringen. Sie können dazu beitragen, das Potential von Diversität, Internationalität und insbesondere auch von Heterogenität der vertretenen Altersgruppen für die Aufsichtsratstätigkeit zu heben.
Dabei darf der Blick nicht ausschliesslich nach Berlin oder Zürich gehen, und keinesfalls sollte ein zu beengtes Bild die Suche nach geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten künstlich einschränken: So entwickelt laut einer Studie der Förderbank KfW aus dem letzten Jahr jeder vierte Social Entrepreneur eigene technologische Innovationen bis zur Marktreife, was nur gut jedes achte «klassische Startup» tut, was Gründerinnen und Gründer von Sozialunternehmen für die Stärkung des technologie- und innovationsgetriebenen, aber eben auch durch eine «Moralisierung der Märkte» (Nico Stehr) herausgeforderten strategischen Verständnisses eines Kontrollgremiums geradezu prädestiniert. Ein Beispiel aus jüngster eigener Erfahrung unterstreicht dieses Potential weiter: Bei einem der diesjährigen Kamin-gespräche der Unternehmensberatung Kienbaum Consultants International, die der seit 2018 verantwortliche junge Firmenlenker (Selbstbezeichnung: «Chief Empowerment Officer») Fabian Kienbaum für ausgewählte junge Aufsichts- und Verwaltungsräte geöffnet hat, fand eine so spannende wie relevante Diskussion zwischen den Teilnehmerinnen und Teil-nehmern statt. Es wurde erörtert, inwieweit die unmittelbare (also die heute spürbare) und bzw. oder eben erst die mittelbare (also die noch zu erwartende) Digitalisierung tatsächlich eine revolutionär neue Wirtschaft oder auch nur wirklich neue Geschäftsmodelle erforderlich mache, oder ob hier die Vorstände ihrer Unternehmen sich nur von einer weiteren Welle an «Moden und Mythen des Organisierens» (Alfred Kieser) tragen lassen. Es gibt durchaus Anlass, kritisch die Auswirkungen neuer Technologien und digitaler Geschäftsmodelle zu betrachten, und die Startup-Szene(n) tragen hierzu ihren Teil bei, bedenkt man beispielsweise dass die Londoner Investmentfirma MMC Ventures kürzlich bei rund 40 Prozent (!) aller «KI-Startups» in Europa feststellen konnte, dass in keiner Weise wirkliche Künstliche Intelligenz genutzt wurde oder angeboten wird. Dies ist jedoch, wie auch der Verlauf der Diskussion bei Kienbaum ergab, keineswegs ein Argument gegen Startup-Gründer als Aufsichtsratsmitglieder, im Gegenteil: Gerade sie sind überdurchschnittlich geeignet, das Gremium auf die tatsächliche Relevanz von technologischen Entwicklungen und ihrer Folgen (beispielsweise in Form neuer Geschäftsmodelle oder Wettbewerber) hin-zuweisen, und die Wahrscheinlichkeit zur Identifikation von false positives und false negatives durch den Vorstand zu erhöhen.
Die sekundäre Prävention ist auf die Früherkennung von Krankheiten gerichtet. Um in diesem Sinne «die unternehmerische Tätigkeit des Vorstands im Sinne einer [sekundär]präventiven Kontrolle» zu begleiten, bietet sich eine Aufschlauung des Aufsichtsrats an: Wo (noch) keine Gründerinnen und Gründer in die direkte Verantwortung aufgenommen werden sollen oder können, lässt sich möglicher-weise ein Aufsichtsrat-in-Residence- Programm etablieren. Da, wie eingangs erwähnt, 70 Prozent der Aufsichtsräte in Deutschland das Thema «Digitale Trans-formation» für «sehr wichtig» oder «wichtig» halten, und ein Aufsichtsrat grundsätzlich mit der Kompetenz ausgestattet ist, Sachverständige zu beauftragen sowie diese dann zu leiten und zu überwachen, wäre ein solches Programm möglich und wünschenswert. Wo es nicht möglich ist, sollten Gesetzgeber und Regulatoren dies ändern. Eine praktische Nachvollziehbarkeit für ein solches Programm gibt die Harvard Business School, die «Entrepreneurs [who] have founded, sold, or IPO’d successful ventures in tech, consumer products, healthcare, biotech, media and entertainment» als «Entrepreneurs in Residence» einlädt, die dann «come to campus 6-7 times per year to meet with students 1:1 [...] and work with faculty on research and course development.» Die jungen Aufsichtsräte-in-Residence-Teilnehmer stehen mit ihrem Sachverstand und ihren Erfahrungen im Hinblick auf die Digitale Transformation so auch niedrigschwellig solchen Gremien zur Verfügung, die beispielsweise von ihren Wahlen noch weit entfernt sind – und es würden, ganz im Sinne des «Reverse Mentoring», beide Seiten hiervon profitieren.