Es war einmal eine Textilindustrie im Kanton Tessin... . Wie in jedem richtigen Märchen begann auch die Geschichte der Schweizer Textil- und Bekleidungsindustrie vor langer Zeit. Aber es steht auch geschrieben, dass dieser stolze Industriezweig abrupt zu Ende kam – er, der seit der Nachkriegszeit bis in die Siebziger Jahre hinein dem Kanton unzählige Unternehmen, Arbeitsverhältnisse, Gehälter und Exporte gegeben hat. Hemdenfabriken, Hersteller von Unterwäsche bis hin zur Konfektionsware - auf einen Schlag verschwanden fast alle diese Betriebe, gross und klein, fortgerissen von ausländischen Konkurrenten, die zu Tiefpreisen (und niederer Qualität) liefern konnten.
Ungefähr zehn Jahre lang hielt diese grosse Leere an. Und plötzlich war ganz unerwartet der Wiederaufschwung zurück im Tessin. Allerdings kamen keine Weberinnen, Näherinnen oder Plätterinnen mehr, sondern eine Industrie entstand, nein vielmehr ein eigentliches System: das «fashion system» - eine geballte Konzentration von Professionalität, Unternehmertum und Kreativität. Sie hat das System Mode überall in der Welt gross gemacht, zunächst in Italien und Frankreich, getrieben an erster Stelle vom veritablen Geschmackslabor Mailand. Die lombardische Stadt ist nach wie vor uneingeschränkt und unangefochten Kreativitätsmotor und Trendsetter für Kleider, Schuhe und Accessoires. Sie definiert im Bekleidungsbereich generell Stilrichtungen und Modeströmungen.
Das Tessin als Designer-Metropole
Das erste Unternehmen, das im Tessin ankerte, war die Gruppe Ermenegildo Zegna. Im Jahr 1981 war die Situation in Italien aufgrund andauernder Streiks, Demonstrationen und anderer gewerkschaftlicher Kampfmassnahmen für die Industrie alles andere als rosig. Eine geordnete Arbeit war nahezu nicht mehr gewährleistet. Mit dem Willen, die anspruchsvollen Herstellungsstandards weiterhin hochzuhalten, gründete die italienische Designer-Marke eine erste Niederlassung im Tessin. Produktion und Büros sind bis heute geblieben. 1996 beschloss auch Gucci, eine der exklusivsten Marken in der Geschichte der Modewelt, sich im Tessin niederzulassen. Damit gehörte das Unternehmen zu den ersten überhaupt, die den Kanton Tessin ganz gezielt nutzten, um die eigene Arbeit innovativ, effizient und ertragsorientiert zu perfektionieren. 1996 wurde die Errichtung einer eigenen Verteilerzentrale beschlossen und 1999 dann für die gesamte Gruppe umgesetzt.
Neben Gucci werden Marken wie Bottega Veneta, Yves Saint Laurent, Balenciaga, Alexander McQueen und Stella McCartney gehandelt. Die Struktur mit Niederlassungen in Bioggio, Cadempino und St. Antonino zählt heute mehr als 600 Angestellte und bewegt jedes Jahr Millionen Einzelstücke. Nur wenige Jahre später tauchten die nächsten berühmten Namen auf der Tessiner Bühne auf: Armani, Akris, Hugo Boss, Guess und Versace - VF International ist die jüngste Ansiedlung, 2005 zunächst in Pazzallo domiziliert, zog der Betrieb unlängst in ein neues und top-modernes Gebäude in Stabio. Weitere 600 Arbeitskräfte aus 32 Ländern managen diverse Marken in Europa, Afrika, Naher Osten und Ozeanien, darunter etwa Lee, Eastpak, Wrangler, The North Face, Napapijri oder Timberland. Für einige Marken, wie etwa Napapijiri, werden am Hauptsitz in Stabio auch neue Materialien getestet oder das Design für neue Kollektionen entwickelt.
Das Phänomen Tessiner Fashion Valley
Der Aufschwung des Tessiner Fashion Valley muss in einem grösseren und komplexeren Rahmen gesehen werden. Von 1997 bis 2012 haben sich in nur 16 Jahren 241 internationale Unternehmen im Valley niedergelassen. Allein aus Italien kamen etwa hundert Firmen. Ausser im Mode- und Luxusgütersegment sind sie in den Bereichen Pharmazie und Elektronik tätig.
Ganz unterschiedliche Faktoren begünstigen und begründen jeweils eine Betriebsverlagerung Richtung Tessin. Zweifelsfrei stellt die wettbewerbsfähige Steuerpolitik des Kantons ein ausgesprochen starker Magnet dar. Dennoch sollte die Diskussion nicht allein auf Steuern verharren. Das Heranwachsen von neuen Industrieschwerpunkten ist nicht zuletzt der geografischen, per se strategischen Position des Kantons Tessin zuzuschreiben: einerseits dank der Nähe – auch in sprachlicher Hinsicht – zur italienischen Halbinsel, andererseits als Verbindungs- und Zugangspunkt zu Nordeuropa. Gerade die Unternehmen des Modesektors haben immer intensiv von der Nähe zur Lombardei und allen voran zu Mailand profitiert, bekannt als internationalem Mode-Hub.
Das Tessin als globaler Wirtschaftsstandort
Unternehmen, die sich auf Tessiner Gebiet niederlassen, können sich ausserdem auf Rahmenbedingungen verlassen, für die das «System Schweiz» selbstredend steht. Gemeint sind unter anderem die beträchtliche politische und institutionelle Stabilität, ein flexibler Arbeitsmarkt mit tiefen Kosten oder die Rundum-Sicherheit, die von der Lebensqualität bis zur Zahlungsbereitschaft alles umfasst.
Auch sei darauf hingewiesen, dass das heute vollständig globalisierte System Mode auf sehr zuverlässige geschäftliche Netzwerke und Synergien aller Art angewiesen ist. Ganz entscheidend sind hierbei logistische Aspekte. Wer mit Luxuskleidern, aber auch generell mit weniger teuren Linien für Junge, handelt, muss in der Lage sein, seine Kollektionen rasch in alle Weltteile schicken zu können. Also braucht es Organisationen wie etwa jene internationalen Logistikunternehmen, die in Chiasso und Umgebung ansässig sind. Nur grosse, multinational tätige Speditionsfirmen sind in der Lage, eine Kollektion weltweit sicher und mit kurzen Lieferzeiten in Verkaufsgeschäfte auszuliefern.
Schliesslich ist neben den vielen harten Faktoren, die ein Modeunternehmen veranlassen, sich im Tessin niederzulassen, auch die ganz persönliche Sicht hervorzuheben. Im Tessin finden Unternehmensleiter und Kader einen sehr hohen Lebensstandard, soziale Sicherheit, Ordnung und Freiheit, herausragende Gesundheitsleistungen sowie Schulen und Universitäten für die Kinder.
Übersetzung: Daniel Heuer
(Bildquelle: Copyright by Ticino Turismo Byline: swiss-image.ch/K. Wagenbauer)