Fondazione-Agire-Life-Science
10. Okt 2013, Standort | MedTech-Sektor Schweiz

Life Sciences im Tessin

Wer denkt beim Tessin nicht an die Sonnenstube, an Ferien oder bestenfalls an den Finanzplatz, dem drittwichtigsten in der Schweiz? Dieser Eindruck ist zweifellos richtig, aber nicht annähernd vollständig.

In den letzten Jahren hat sich das Tessin einen grossen Anteil im Sektor der Life Sciences gesichert, besonders hinsichtlich industrieller Produktion und Forschung. Dabei handelt es sich in der Regel um ausgesuchte Top-Nischentätigkeiten. Einer der Industriezweige, der auf internationaler Ebene keine Vergleiche zu scheuen braucht, ist sicher die Pharmazie. Aufgrund der komplexen Materie und seiner geringen Sichtbarkeit dürfte der Bereich auch vielen Tessinern nur unzureichend bekannt sein. Wer Pharmazie sagt, denkt sicher fast ausschliesslich an Basel - sozusagen das Mekka der Branche und Sitz von Giganten wie Novartis oder Roche. An das Tessin denkt man weniger, obwohl die Branche gerade dort eine immer wichtigere Position einnimmt.

Jahresumsatz über 2 Mrd. Franken im Tessin

In der Tat weist die Tessiner Pharmabranche heute ein ganz erhebliche Dimension auf und ist eine unumgängliche Grösse geworden. Nur wenige Zahlen reichen aus, um das Erreichte zu unterstreichen: Die 28 Mitglieder des Dachverbandes Farma Industria Ticino (FIT), beschäftigen 2.400 hoch qualifizierte Personen und generieren ein Gehaltsvolumen in der Grössenordnung von CHF 180 Mio. Werden die Umsätze aus Handelstätigkeiten und dem Auslandsgeschäft der Töchter von Tessiner Firmen eingerechnet, beläuft sich der Gesamtumsatz auf über CHF 2 Mrd. Davon werden 95 % ausserhalb des Tessins und 80 % ausserhalb der Schweiz generiert.

Das ist ein wichtiger Beitrag zur Wirtschaft der italienischen Schweiz. Laut Statistik macht das kantonale Bruttoinlandprodukt etwa 15 Mrd. Franken aus, das heisst etwa 3,8 % des nationalen BIP. Die Pharmaindustrie trägt mit rund 8 % zum BIP bei, deutlich mehr als Branchen wie das Bau- oder Transportwesen. Der Tessiner Finanzplatz, Nummer drei in der Schweiz, generiert circa 17,5 % des kantonalenBIP, während die eigentliche Industrie 21 % dazu beiträgt, wovon wiederum gut 38% von Pharmaunternehmen stammen.

Kurze Geschichte der Tessiner Pharmabranche

Die Tessiner Pharmabranche ist jung. Ihre Geschichte begann in der Nachkriegszeit. Mit wenigen signifikanten Ausnahmen nahm der grösste Teil der Unternehmen seine Tätigkeit in den fünfziger Jahren auf. Einige Pioniere der ersten Stunde heute noch aktiv. Andere Unternehmer lancierten einen zweiten Entwicklungsschub in den sechziger Jahren und brachten neues industrielles Gedankengut ein. Gleichzeitig festigte sich die Branche und erschloss auch ausländische Märkte. 

Anfang der achtziger Jahre ist ein weiterer Qualitätssprung sichtbar geworden, dessen Auswirkungen bis heute wirksam sind. Insbesondere wurden die zentralen strategisch-industriellen Technologien verfeinert - vor allem mit Schwerpunkt auf der Entwicklung neuer und origineller Produkte. Einige Marken sind mittlerweile weltweit bekannt. 

Zu den Hauptmärkten zählen Europa und die Vereinigten Staaten, exportiert wird jedoch insgesamt in 120 Länder. Die Tessiner Unternehmen sind meistens im pharmazeutischen Bereich tätig und konzentrieren sich im Wesentlichen auf drei Tätigkeitsfelder. Die erste Gruppe bereitet Fertigprodukte zum Verkauf vor und kommerzialisiert sie direkt, wie etwa IBSA, Sintetica oder Ginsana. Eine zweite Gruppe agiert stärker integriert und nimmt zahlreiche Tätigkeiten für sich und Dritte wahr. Sie handelt oft wie ein qualifiziertes «contract manufacturing», wie dies etwa bei Helsinn Healthcare oder bei Cerbios der Fall ist. Das letzte Tätigkeitsfeld schliesst Unternehmen ein, die typischerweise im «contract manufacturing» für weitergehende Leistungen unterwegs sind, wie zum Beispiel Rivopharm oder Microsphere.

Das internationale Umfeld

In den letzten Jahren war der internationale Pharmabereich durch den anhaltenden Druck geprägt die Fixkosten zu reduzieren. Auslöser waren unter anderem: der Prozess einer Verankerung in immer stärker global handelnden Gruppen, ein Rückgang der Verkäufe in sogenannten traditionellen Märkten (Europa und USA) und  die Stärkung des Vertriebs in aufstrebenden Märkten.

Was die Tessiner Pharmabranche betrifft, erlebt sie eine deutlich stabilere Situation. «In der Tat ist im Tessin der Makroeffekt begrenzt. Die Erklärung liegt in der diversifizierten Struktur der Branche, wobei der grösste Teil der Unternehmen mit Dienstleistungen aktiv ist, und nicht im Direktverkauf von Pharmaprodukten.» wie Giorgio Calderari, Präsident von FIT und Group General Manager von Helsinn Healtcare erklärt. «Im Gegenteil könnten Tessiner Unternehmen sogar vom Trend zahlreicher Giganten der Branche profitieren, wenn letztere, übrigens auch Schweizer Unternehmen, immer mehr Tätigkeiten auslagern, um ihre eigenen Strukturen im gegenwärtigen Marktumfeld möglichst flexibel zu gestalten. Ehe sie ins Ausland gehen, wo immer auch Wechselkurs-Risiken gegeben sind, können sie Kooperationsmöglichkeiten im Tessin wahrnehmen. Tessiner Unternehmen können so ihre Karte als Produktions- und Entwicklungspartner ausspielen. In der klinischen Forschung hingegen ist die Branche nicht gut eingerichtet. Hier fehlt die kritische Grösse», so Giorgio Calderari. 

In diesem Sinne sind die Tessiner Betriebe gut vorbereitet, indem sie weiterhin in die Modernisierung ihrer Infrastruktur, in Forschung und Entwicklung sowie in Mitarbeiter investieren. Abschliessend erklärt Giorgio Calderari «Im Jahre 2010 wurden 180 Mio. Franken in Infrastruktur investiert, allein davon 30 % in Forschung und Entwicklung».

Der MedTech-Sektor

Im Kanton Tessin findet sich zudem eine starke Präsenz von MedTech-Unternehmen. Vor allem Medacta ist innerhalb von wenigen Jahren zu einem der besten und innovativsten MedTech-Betriebe in Europa geworden, und das auf dem Gebiet der orthopädischen Implantate. Im Kielwasser von Medacta sind zudem in jüngster Zeit neue Unternehmen entstanden (zum Beispiel IBI SA), die ihrerseits neue biomedizinische Produkte entwickeln und bereits heute international vermarkten. Auch im Bereich der Mechanik und Mechatronik sind verschiedene Unternehmen bekannt, die sich verstärkt der Produktion von Komponenten für medizinische Ausrüstungen verschreiben. Schliesslich sind im Tessin mehrere Hauptsitze von grossen internationalen Gruppen anzutreffen, die in der MedTech-Branche als führend gelten - darunter DePuySynthes und KerrHawe.

Entwicklung der Forschung und Schlussbetrachtung

Ein nicht unerheblicher Beitrag zum Wachstum des pharmazeutischen Sektors kommt aus der biomedizinischen Forschung. Diese hat in den vergangenen Jahren beträchtlich zugenommen. Die Rose im Knopfloch der Tessiner Forschung ist zweifellos das Biomedizinische Forschungsinstitut (Istituto di Ricerca in Biomedicina) in Bellinzona, das international als führendes Institut für Immunologie gilt. Andere renommierte Forschungsstätten wie das Herzzentrum Tessin (Cardiocentro Ticino) oder das Onkologische Institut der Italienischen Schweiz (Istituto Oncologico della Svizzera Italiana) geben der Wettbewerbsfähigkeit des Tessins in der Biomedizin einen zusätzlichen Schub.

Die Stiftung Agire (Agenzia dell’innovazione dell Cantone Ticino) sowie das Projekt Tecnopolo Ticino ermöglichen und erleichtern den Austausch zwischen Forschung und industrieller Anwendung. Auf diese Weise werden neue Start-ups in ihrem Werdegang gefördert und finanziert, auch im Bereich Biotechnologie und MedTech. Damit sind alle Voraussetzungen für ein anhaltendes Wachstum der Pharma/MedTech-Sektorim Tessin gegeben.

Übersetzung: Daniel Heuer

(Bildquelle: www.agire.ch)




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