Der EuGH hat entschieden, dass Einkünfte einer Person vollumfänglich in Deutschland besteuert werden können, wenn diese:
- ihren Wohnsitz von Deutschland in die Schweiz verlegt
- gleichzeitig in Deutschland als Grenzgänger berufstätig bleibt
Dies gilt – entgegen den Regelungen im OECD Musterabkommen – im Jahr des Wegzugs und in den darauf folgenden fünf Jahren.
Hintergrund: Überdachende Besteuerung des Art. 4 Abs. 4 DBA
Zieht eine Person von Deutschland in die Schweiz, darf Deutschland die aus deutschen Quellen stammenden Einkünfte zusätzlich besteuern (Art. 4 Abs. 4 DBA) – insofern die Person insgesamt fünf Jahre in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig war.
Diese sogenannte «überdachende Besteuerung» ermöglicht eine deutsche Besteuerung der aus Deutschland stammenden Einkünfte im Jahr des Wegzugs sowie in den fünf folgenden Jahren. Das Besteuerungsrecht der Schweiz als neuer Ansässigkeitsstaat wird nicht eingeschränkt. Eine potenzielle Doppelbesteuerung ist in Deutschland mittels Anrechnung der Schweizer Steuer zu vermeiden. Hiermit werden diese Einkünfte regelmässig mit der höheren, deutschen Steuer belastet.
Die überdachende Besteuerung greift jedoch in folgenden Fällen nicht:
- Die wegziehende Person ist (auch) Schweizer Staatsbürger.
- Der Umzug in die Schweiz erfolgte zur Aufnahme einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit.
- Der Wegzug in die Schweiz erfolgte, um innerhalb von sechs Monaten eine Person mit Schweizer Staatsangehörigkeit zu heiraten (Billigkeitslösung).
Begründung des EuGH: Besteuerung steht nicht im Widerspruch zum Freizügigkeitsabkommen
Der EuGH hatte im vorgelegten Fall über Verstösse gegen die am 21. Juni 1999 in Luxemburg zwischen der Europäischen Union und der Schweiz unterzeichneten bilateralen Abkommen («Bilaterale Abkommen I») zu entscheiden. Zu prüfen waren unter anderem Verstösse gegen Art. 2 des Freizügigkeitsabkommens (Grundsatz der Nichtdiskriminierung) sowie Art. 9 des Anhangs I dieses Abkommen (Grundsatz der Gleichbehandlung).
Der EuGH hat auf Grundlage des vorgenannten Sachverhalts entschieden, dass die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Gleichbehandlung durch das DBA nicht verletzt werden: Es sei gerade Sinn und Zweck eines DBA, zur Beseitigung einer bestehenden Doppelbesteuerung die Anknüpfungspunkte für die Bestimmung der jeweiligen Steuerhoheit festlegen zu können. Hierzu sei eben das Kriterium der Staatsangehörigkeit zulässig, ohne dass dies für sich genommen zu einer verbotenen Ungleichbehandlung verschiedener Staatsangehöriger führt. Viel mehr stünde fest, dass sogar eine Gleichbehandlung mit Steuerpflichtigen erfolgt, die in Deutschland sowohl arbeiten, als auch ansässig sind.
Da im Vergleich zu in Deutschland ansässigen Steuerpflichtigen kein steuerlicher Nachteil bestünde, läge in gleichem Zuge auch keine verbotene Diskriminierung vor. Dieser wäre die Folge eines Verstosses gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung.
Praxishinweis
Das Urteil kam überraschend. In der Rechtssache Ettwein sah der EuGH noch eine Diskriminierung gegeben. Jetzt gilt es sicherzustellen, dass im Rahmen der laufenden DBA-Verhandlungen diese Norm – wie übrigens auch Art. 4 Abs. 3 und Abs. 9 DBA – ersatzlos gestrichen wird. Die Normen, die es ansonsten in keinem anderen DBA Deutschlands gibt, wurden 1971 in das DBA aufgenommen. Denn damals hat die Schweiz keine (grosse) Amtshilfe gewährt (Informationsaustausch).
Bekanntlich hat sich dies bereits 2011 geändert – leider blieben die massiven Benachteiligungen des Vertragspartners Schweiz in Art. 4 Abs. 3, 4 und 9 DBA.