Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) werden u.a. durch die «Bilateralen Abkommen» geregelt, ein Vertragsnetz mit 120 einzelnen Abkommen. Um eine einheitlichere und effizientere Anwendung bestehender und zukünftiger Abkommen zu gewährleisten, haben die Schweiz und die EU über ein institutionelles Abkommen (InstA) verhandelt. Es bietet die Chance, den wichtigen bilateralen Weg auf eine langfristige tragfähige Basis zu stellen, sichert den Zugang zum EU-Binnenmarkt und schafft Rechtssicherheit. Am 23. November 2018 wurden die Verhandlungen abgeschlossen. Am 7. Dezember 2018 entschied der Bundesrat in der Schweiz Konsultationen über den Textentwurf einzuleiten. Das Ergebnis brachte zusätzlichen Klärungsbedarf, der Gegenstand aktueller Gespräche mit der EU ist.
Das «Fenster» zum Rahmenabkommen Schweiz – EU ist noch auf
Um was geht es?
Von den bestehenden bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU sollen folgende fünf Abkommen erfasst werden:
- Personenfreizügigkeit;
- Luftverkehr;
- Güter- und Personenverkehr auf Schiene und Strasse;
- Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen;
- gegenseitige Anerkennung der Konformitätsbewertungen.
Des Weiteren würden auch künftige Marktzugangsabkommen unter das InstA fallen.
Das InstA sieht eine dynamische Rechtsübernahme von EU-Rechtsentwicklungen vor. Gleichzeitig wird die Schweiz bei der Entwicklung des relevanten EU-Rechts systematisch konsultiert und sie kann ihre Anliegen im Rahmen eines «decision shaping» aktiv einbringen. Ausnahmen von der Rechtsübernahme sind im Protokoll I und II des InstA festgehalten. Sie sichern den Erhalt bisheriger Sonderregelungen der Schweiz mit der EU. So werden zum Beispiel im Bereich der flankierenden Massnahmen eine Voranmeldefrist von höchstens vier Arbeitstagen in risikobasierten Branchen (anstatt derzeit acht Kalendertage für alle Branchen), Kautionspflicht nach einem Erstverstoss in risikobasierten Branchen sowie eine Dokumentationspflicht für Selbstständige festgehalten.
Beide Parteien legen die bilateralen Abkommen zudem eigenständig und nach völkerrechtlichen Gesichtspunkten möglichst einheitlich aus. Die Auslegung erfolgt in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), wenn in die Abkommen übernommenes EU-Recht betroffen ist. Bei der Überwachung gilt grundsätzlich das Zwei-Pfeiler-Modell, wonach jede Vertragspartei die staatlichen Beihilfen in ihrem Staatsgebiet eigenständig überwacht.
Bei Streitigkeiten kann jede Partei die Angelegenheit in den jeweils betroffenen Gemischten Ausschuss einbringen. Wird im Gemischten Ausschuss keine Lösung gefunden, kann ein paritätisches Schiedsgericht angerufen werden. Soweit bei der Streitigkeit EU-Recht betroffen ist, wird der EuGH angerufen. Die Entscheidung des EuGH ist für das Schiedsgericht dann bindend.
Wie geht es weiter?
Das Ergebnis der Konsultationen brachte Klärungsbedarf vor allem in drei Punkten:
- Flankierende Massnahmen
- Unionsbürgerrichtlinie
- Staatliche Beihilfen
Zum jetzigen Zeitpunkt ist es ungewiss, ob der Schweizer Bundesrat den Entwurf zum InstA unterzeichnen wird. Sollte der Bundesrat den Entwurf unterzeichnen, müsste im nächsten Schritt das Schweizer Parlament dem InstA zustimmen. Nicht zuletzt wäre der Ausgang einer allfälligen Volksabstimmung abzuwarten.
Diese «Klärungen» zwischen der Schweiz und der EU müssten sicherlich ausreichend substantiell sein, um eine Zustimmung des Parlaments und ein allfälliges Referendum gegen das InstA gewinnen zu können.
Weite Kreise der Schweizer Wirtschaft befürworten das Rahmenabkommen grundsätzlich, aber nicht ohne Vorbehalte. In der Zwischenzeit haben sich auch Gruppierungen in der Wirtschaft formiert, die einen Abbruch der Gespräche zum InstA fordern und auf neue Verhandlungen mit der EU setzen. Insbesondere die Souveränitätsfrage ist aktuell wieder aufgeworfen worden, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Rolle des Schiedsgerichts und des EUGHs. Auf Ablehnung stösst das InstA auch bei den Gewerkschaften, vorwiegend wegen der Unterstellung der flankierenden Massnahmen bei der Entsendung von Mitarbeitern in die Schweiz unter EU-Recht. Eine vorbehaltlose Unterstützung erhält der Entwurf für das InstA durch die Schweizer Parteienlandschaft gegenwärtig auch nicht.
Wie ist die Bedeutung für den Wirtschaftsverkehr Deutschland-Schweiz?
Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Schweiz mit einem Handelsvolumen von über 80 Mrd. Euro, d.h. Importe und Exporte von 330 Mio. Euro täglich. Für Deutschland zählt die Schweiz zu den 10 wichtigsten Handelspartner. Sie liegt in der Rangliste nach Exporten auf Platz 9 und nach Importen auf Platz 7. Aufgrund dieser engen Wirtschaftsbeziehungen ist eine nachhaltige Regelung der Rahmenbedingungen zwischen der Schweiz und der EU die fundamentale Basis, um eine weiterhin erfolgreiche Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen Deutschland – Schweiz sicherzustellen.
Sollte das InstA nicht angenommen werden, bleiben die bestehenden bilateralen Verträge zwar grundsätzlich in Kraft. Das bilaterale Verhältnis Schweiz – EU wäre aber dennoch betroffen, da zum einen der Abschluss neuer Abkommen zwischen der Schweiz und der EU ins Stocken geraten wird. Zum anderen droht ein Erodieren der bestehenden Abkommen, da Rechtsunsicherheiten bei der Aktualisierung bestehender Abkommen, wie z.B. dem Abkommen über den Abbau technischer Handelshemmnisse, bestehen. Da diese Aktualisierungen ständig in vielen Bereichen vorgenommen werden, würde durch eine mangelnde gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen, die Normenäquivalenz relativ schnell erodieren, mit entsprechenden negativen Folgen für die am Wirtschaftsverkehr Schweiz-Deutschland beteiligten Unternehmen.
Die europapolitische Diskussion hat in der Schweiz wieder an Fahrt aufgenommen. Viel Zeit scheint aber nicht mehr zu bleiben. Manches Fenster öffnet sich in der Geschichte nur für kurze Zeit. Die Gefahr ist jetzt gross, dass viele ungelöste Dossiers über die Rahmenbedingungen des Marktzugangs wie zum Beispiel die Aktualisierung der Medizinprodukteverordnung oder die Äquivalenzanerkennung im Datenschutz und vieles mehr, was z.T. seit Jahren blockiert ist, in den kommenden Jahren in einem Transformationsstadium hängen bleiben. Vor allem für die kleinen – und mittelständischen Unternehmen würde der grenzüberschreitende Wirtschaftsverkehr administrativ deutlich aufwändiger und teurer.
Schwer ins Gewicht fällt schon jetzt die wachsende Unsicherheit, ob und welche Teile des Abkommens über gegenseitige Konformitätsbewertungen gegebenenfalls nicht mehr aktualisiert werden.
Aus wirtschaftlicher Perspektive sind deswegen der Erhalt und der Ausbau des gegenseitigen Marktzugangs zentral, da dadurch auch Rechtssicherheit für die Unternehmen geschaffen und langfristig die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaftsstandorte gesichert wird.