Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) werden u.a. durch die «Bilateralen Abkommen» geregelt, ein Vertragsnetz mit 120 einzelnen Abkommen. Um eine einheitlichere und effizientere Anwendung bestehender und zukünftiger Abkommen zu gewährleisten, hatten die Schweiz und die EU seit 2014 über ein institutionelles Abkommen (InstA) verhandelt. Im Mai 2021 hat die Schweiz der EU einseitig den Abbruch der Verhandlungen mitgeteilt. Die EU erklärte daraufhin, dass ohne das InstA keine neuen Abkommen mit der Schweiz abgeschlossen werden und bestehende Abkommen nicht mehr aktualisiert werden können, was, aus der zeitlichen Perspektive des Frühjahres 2022, zur Konsequenz hat, dass in Ermangelung einer Modernisierung der bestehenden Abkommen die Beziehungen mit der Zeit geschwächt werden.
Wie diese in Zukunft fortgesetzt werden können und ob dieses Szenario der Erosion der sektoriellen Abkommen tatsächlich so stringent in der Realität umgesetzt wird, ist ungewiss. Das Schadenspotential ist für beide Seiten erheblich und für die Wirtschaft Deutschland-Schweiz die denkbar schlechteste Option. Doch die im Zusammenhang mit dem gescheiterten Rahmenabkommen adressierten Herausforderungen und Anliegen für eine Fortentwicklung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU sind nach wie vor aktuell und verlangen weiterhin nach einer verlässlichen Lösung.
Die Erosion der bestehenden bilateralen Abkommen setzt in der Zwischenzeit bereits ein, wie die Hersteller von Medizinprodukten beidseits der Grenze aktuell leidvoll erfahren müssen. Da die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen im Mai 2021 seitens der EU nicht mehr erfolgte, müssen nun Schweizer wie EU-Medtech Hersteller beim gegenseitigen Export ihre Marktzulassung prüfen, einen bevollmächtigten Rechtsvertreter einsetzen und landesspezifische Etikettierungsvorschriften einhalten. Ein Schaden für die Unternehmen beidseits der Grenze.
In den nächsten Jahren veralten weitere Abkommen, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Aktualisierung der EU Maschinenrichtlinie, welche in den nächsten 2 Jahren erwartet wird; oder die Äquivalenzanerkennung im Datenschutz und zudem noch viele mehr, welche z.T. seit Jahren blockiert sind. Und nicht zuletzt, die ungeklärte Assoziierung der Schweiz als Drittstaat beim EU-Forschungsrahmenprogramm, Horizon Europe, wirkt sich schon jetzt nachteilig auf die Innovationsund Forschungsstandorte beidseits der Grenze aus.
Angesichts dieses Schadenspotentials, welches sich vor allem erst in den kommenden Jahren richtig negativ auswirken würde, haben sich die Schweiz und die EU grundsätzlich dazu bekannt, den Beziehungen eine erfolgreiche Zukunft geben zu wollen. Die EU erwartet nach dem unilateralen Abbruch der Verhandlungen durch die Schweiz, dass sie potentielle Wege aufzeigt, wie die Beziehungen zu beiderseitigem Vorteil und Akzeptanz fortentwickelt werden können. Die Schweizer Regierung hat nach Abschluss einer Klausur-Sitzung Ende Februar 2022 mitgeteilt, dass sie grundsätzlich den bilateralen Weg fortsetzen und bei den Verhandlungen einen vertikalen Ansatz gehen will, mit dem Ziel, die institutionellen Elemente in den einzelnen Binnenmarktabkommen separat zu verankern. Auf dieser Grundlage sollen Sondierungsgespräche mit der EU aufgenommen werden. Ob dies auch für die EU eine Option darstellt, ist im Moment nicht bekannt.
Für die Handelskammer Deutschland-Schweiz ist die zukünftige Ausgestaltung der Beziehungen Schweiz-EU von besonders grosser Bedeutung, da mit Deutschland, als wichtigstem Wirtschaftspartner der Schweiz, ein sehr intensiver Austausch stattfindet und die Verflechtung der Wirtschaft besonders eng ist. Heute spielen Wertschöpfungsketten von Gütern und Dienstleistungen im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr eine immer grössere Rolle und vertiefen die Verflechtung der Wirtschaft im internationalen Austausch. Diese wäre ohne den freien Austausch von Produkten, den Abbau von tarifären und nichttarifären Handelshemmnissen, den freien Personenverkehr sowie die gegenseitige Anerkennung von Prüfzertifikaten und Berufsqualifikationen nicht möglich gewesen.
Der zukünftige Erhalt und der Ausbau des gegenseitigen Marktzugangs sowie verlässliche Spielregeln sind zentral. Dabei gilt es, nicht wieder neue bürokratische Belastungen für die Aussenwirtschaft entstehen zu lassen, sondern im Gegenteil, die bestehenden weiter abzubauen.
Vor diesem Hintergrund appelliert die Handelskammer Deutschland- Schweiz an beide Seiten, Schweiz und EU, dass der aktuelle Rückschritt in den Beziehungen nicht dazu führen darf, dass die über Jahre mühsam erreichten Liberalisierungsschritte beim Marktzugang wieder rückgängig gemacht werden und neue Abkommen auf Jahre blockiert sind. Vielmehr gilt es, den gegenseitigen Dialog jetzt verstärkt aufzunehmen und für die Fortentwicklung zukünftiger gemeinsamer Beziehungen Schweiz–EU offen zu bleiben.