Industrialisierung, Deindustrialisierung, Reindustrialisierung – Teil 1
20. Jan 2015, Wirtschaft | Schweizer Wirtschaft

Industrialisierung, Deindustrialisierung, Reindustrialisierung – Teil 1

Seit 1960 ist der Industriesektor in der Schweiz stark redimensioniert worden – ebenso wie in anderen westlichen Ländern. Dennoch kann von einer Deindustrialisierung des Landes keine Rede sein. Heute wird wieder stärker in die Produktion investiert.

In der Schweiz lässt sich gegenwärtig ein Vorgang beobachten, den andere westliche Länder beneiden: Zahlreiche Industrieunternehmen investieren in Produktionswerke und schaffen neue Arbeitsplätze – darunter Grosskonzerne wie Nestlé, Novartis, Roche, Coop, Migros, Rolex, Swatch, ABB, Siemens und Syngenta.

Und auch viele Unternehmensgruppen und Mittelstandsfirmen erweitern ihre Herstellungskapazitäten. Die Beispiele reichen von CPH und Bobst über Swisspor und Wicor bis hin zu Metrohm und der Brauerei Locher Appenzell. Ein starker Kontrast zur Sorge, dass sich das Land irreversibel deindustrialisiere. Die Befürchtung, die Schweiz werde früher oder später zum reinen Dienstleistungsland, ist unbegründet.

Schweiz ist eines der stärksten industrialisierten Länder – weit vor Deutschland

Das belegen nicht nur die Investitionen in neue Werke, sondern auch eine wichtige Kennzahl: die Industrieproduktion pro Kopf. Betrachtet man diese, ist die Schweiz mit 12.400 US Dollar das «am stärksten industrialisierte Land der Welt», wie Avenir Suisse im Jahr 2011 festhielt. Die Industrienation Deutschland bringt es auf knapp zwei Drittel dieses Wertes. So sind es denn auch Branchen wie die Pharmaindustrie, welche die höchste Pro-Kopf-Wertschöpfung in der hiesigen Volkswirtschaft generieren – und nicht Zweige des Dienstleistungssektors. Dabei ist zu bedenken, dass etliche Schweizer Industrieunternehmen nicht nur am Heimmarkt, sondern auch im Ausland in neue Werke investieren und von dort Waren beziehen.

Und doch ist die Deindustrialisierung ein Prozess, von dem das Land in den vergangenen Jahrzehnten erfasst worden ist – genauso wie andere entwickelte Volkswirtschaften. Die Schweiz gehörte zu den am frühsten und stärksten industrialisierten Ländern. Vor hundert Jahren zählte allein die Textilbranche bis zu 400.000 Beschäftigte. Noch Anfang der 1960er Jahre arbeitete jeder zweite Erwerbstätige in der Industrie. Seither ist die Zahl um mehrere hunderttausend zurückgegangen. Parallel dazu verringerte sich seit 1970 der industrielle Anteil am Bruttoinlandprodukt (BIP) auf heute:

  • 22 Prozent (nimmt man «Die Volkswirtschaft » als Grundlage)
  • 27 Prozent (nach Angaben der Weltbank)
Renaissance seit 1990

In den frühen 1990er Jahren setzte eine Trendwende ein; die Beschäftigung in der Industrie ging zwischen 1990 und 2000 zwar weiter zurück, ihr Wertschöpfungsanteil blieb aber gleichzeitig konstant. Die Erklärung dafür liegt auf der Hand: Der Industriesektor verzeichnete in dieser Phase ein starkes Produktivitätswachstum. Und dieses setzte sich nach der Jahrtausendwende nicht nur fort, sondern erfuhr sogar eine Beschleunigung. Auch die Beschäftigtenzahl in der Industrie nahm seither wieder zu – wenn auch nur geringfügig. Zwischen 2000 und 2012 wuchs die Industrie sogar schneller als das BIP und viele Dienstleistungssegmente.

Die Leistungsfähigkeit der hiesigen Industrie zeigt sich schliesslich auch darin, dass die Schweiz nach der Wirtschaftskrise von 2008/09 als einziges westliches Land das Niveau von 2007 wieder deutlich übertroffen hat. Im Vergleich mit anderen westlichen Staaten schneidet die Industrieproduktion der Schweiz mit einem Plus von 6,6 Prozent sehr gut ab – bezogen auf die Zeit zwischen 2007 und 2013. Ein Vergleich:

  • Deutschland: -0,3 Prozent
  • USA: -0,6 Prozent
  • Grossbritannien: -13,5 Prozent
  • Japan: -14,9 Prozent
  • Frankreich: -15,0 Prozent

Allerdings haben in dieser Zeit die Schwellenländer um fast 38 Prozent zugelegt, China gar um 101,7 Prozent.

Etwas Zweites kommt hinzu: Entsteht beispielsweise – wie im Fall der Nespresso-Anlage in Avenches – ein hoch automatisiertes Werk mit einem Investitionsvolumen von 300 Millionen Franken und 300 Mitarbeitern, werden bei den Lieferanten (Bau, Anlage, diverse Dienstleistungen) noch mindestens 300 weitere Arbeitsplätze geschaffen.

Schweiz mit Kurs auf Reindustrialisierung

Die jüngste Entwicklung der Schweizer Industrie ist umso bemerkenswerter, als jede Investition in die hiesige Produktionskapazitäten dem Risiko des starken Frankens ausgesetzt ist. Zusätzlich zu berücksichtigen ist, dass die Industrieunternehmen in den vergangenen Jahren viele Dienstleistungen ausgelagert haben. Dazu gehören im Besonderen Teile der IT und der Forschung sowie Ingenieurleistungen für Produktentwicklung, Technologie und Innovation, aber auch Distribution und Logistik, Public Relations und Marketing, Unterhalt/Reparaturen sowie das Facility-Management.

Früher waren diese Dienstleistungen in der Unternehmens-Wertschöpfung und damit im Industrieanteil des BIP enthalten. Würden sie heute noch in der Statistik der industriellen Bruttowertschöpfung und Beschäftigung berücksichtigt werden, ergäbe sich ein noch eindrücklicheres Bild der Reindustrialisierung.

Verhaltene Reindustrialisierung in den USA

Auch in den USA lässt sich eine Reindustrialisierung erkennen – bis jetzt allerdings noch in geringem Umfang. Gründe dafür sind:

  • verringerten Differenzen zwischen den niedrigsten Arbeiterlöhnen in Amerika und China
  • geringe Energiekosten in den USA
  • eine komplizierte und anfällige Zulieferkette aus Asien mit langen Transportzeiten – damit verbunden sind höhere Kosten für Vorratshaltung und Logistik

Ausserdem haben amerikanische Firmen den Vorteil, dass sie Sortimente und Volumen kurzfristig und flexibel an die sich rasch ändernde Konsumentennachfrage anpassen können, zum Beispiel in der Textilindustrie.

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Lesen Sie auch Teil 2 der Artikelreihe: Industrialisierung, Deindustrialisierung, Reindustrialisierung: >>zum Artikel

(Bildquelle: Swissmem)




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